Leise flackert eine Kerze auf dem Tisch und ich beobachte sie. Wärme spendet sie allerdings nicht. Es sind mindestens 20 Grad im Minus. Ich sitze auf dem Schoß meiner Mutter und kann immer wieder ihre Zähne klappern hören. Wenn ich es könnte, würde ich ihr mehr Wärme spenden, damit sie sich nicht so anstrengen muss, aber ich bin selbst durch gefroren. Unser Kamin ist seit Tagen kalt. Das Holz wurde aus allen Häusern eingesammelt und auf einen großen Haufen geworfen. In der Mitte unseres Dorfes brennt ein Feuer, aber wir dürfen nicht dorthin gehen, um uns zu wärmen. Ich bin zwar erst 12 Jahre alt, aber ich verstehe ganz genau, was hier vor sich geht. Heute ist der erste Weihnachtsfeiertag, aber gefeiert haben wir ihn seit Jahren nicht mehr. Als alles angefangen hat, wurde es uns verboten, einen Tannenbaum aufzustellen. Ich weiß nicht, wie es jemanden schaden soll, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Jedoch wurde es so beschlossen und jeder der dabei erwischt wurde, wurde dafür bestraft. Allerdings hatten wir immer Glück.
Zwei Kilometer von uns entfernt, liegt ein größeres Dorf, in dem man in der Nacht einen Weihnachtsbaum kaufen konnte. Der Baum wurde klein gehackt und zu Hause haben wir ihn wieder zusammen gebunden. Er war nicht schön, aber jedes Jahr habe ich mich darüber gefreut, dass wir doch einen Tannenbaum hatten. Bei diesem Markt gab es auch viele andere Sachen zu kaufen, jedoch reichte unsere Tauschware dafür nicht aus. Wir hatten lediglich ein paar alte Lumpen, die dick genug gefüttert waren, um die kalten Temperaturen zu überstehen. Außerdem konnte meine Mutter mit zwei Steckrüben, die wir noch im Schuppen gelagert hatten, für mich ein paar Schuhe besorgen. Es war für letztes Jahr mein Geschenk und ich war ihr dafür sehr dankbar. Als wir vor ein paar Tagen von dem Markt zurück kamen, war es allerdings anders, als die letzten Jahre. Wir liefen an tiefe Gruben vorbei, die vor wenigen Wochen noch nicht dort waren. Ich wollte sie erkunden, aber meine Mutter ließ meine Hand nicht los und lief schneller, sodass ich beinahe rennen musste, um ihr folgen zu können. Oft sah ich auch in traurige Gesichter, die an uns vorbei gingen. Manche von ihnen zogen einen Karren hinter sich her, auf dem etwas in Laken eingerollt lag. Ich vermute, es waren die Toten. Es gab viele von ihnen ist letzter Zeit. Einer unserer Nachbarn erzählte, dass nur sieben Kilometer von uns eine Bombe einschlug. Weiter auf dem Weg waren auch viele Bettler, die alles annahmen, was sie bekommen konnten. Einmal habe ich einen Bettler gesehen, wie er sogar eine der Toten untersuchte. Ich fand es schrecklich! Meine Mutter sagt immer, ‚Man soll die Toten ruhen lassen. In dieser Zeit ist es die einzige Möglichkeit, um Ruhe zu finden.‘ Ich weiß, was sie damit meint, denn auch ich schlafe schlecht. Entweder weckt mich das Rattern der Gewehre oder meine Albträume, in denen ich immer wieder sehe, wie mein Vater erschossen wird. Als alles anfing, wurde er von hier weg geholt. Die Fahrzeuge fuhren durch alle Orte und sammelten die Väter und älteren Jungs ein. Viele meiner Freunde haben sie auch mitgenommen. Seitdem besteht unser Dorf nur noch aus Frauen, Kindern und alten Greisen, die kaum noch gehen können. Oft denke ich, dass mein Traum wahr ist. Ich weiß, dass es meinem Vater nicht gut geht, vermutlich lebt er auch nicht mehr. Manchmal glaube ich sogar, dass er mir mit diesem Traum etwas sagen will. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, weil ich meine Mutter nicht beunruhigen will. Aus diesem Grund erzähle ich ihr Vieles nicht. Allerdings hätte ich das letzte Mal besser etwas sagen sollen.
Als wir vom Markt zurück gingen, habe ich an einer Kreuzung in der Ferne ein paar Männer in Uniformen gesehen, wie sie die Leute zusammen furchten. Meine Mutter schaute nur stur nach vorn und bekam es nicht mit. Einen Tag später waren sie auch in unserem Dorf und sind seither hier. Manchmal male ich mir aus, was gewesen wäre, wenn ich es ihr gesagt hätte. Vielleicht wären wir dann geflohen. Aber bei diesen Temperaturen wären wir wahrscheinlich in einem der Straßengräben erfroren. So sind wir wenigstens in unserem Haus vor dem Wind und dem Schnee geschützt und bekommen jeden Tag ein wenig zu essen. Zwei kleine Laib Brot mit ein wenig Fett oder Käse ist zwar nicht viel, aber es hält uns am Leben. Oft knurrt in der Nacht mein Bauch und ich werde von meinem Hungergefühl geweckt. Vielleicht hätten wir die Steckrüben doch lieber behalten sollen.
Den ganzen Tag verbringen wir in unserem Haus. Die Soldaten sagen, dass es zu unserem eigenen Schutz ist, doch ich denke, dass sie uns so besser kontrollieren können. Einmal am Tag dürfen wir für eine halbe Stunde circa an die frische Luft. Mit anderen Menschen dürfen wir allerdings nicht reden. Es ist einfacher für sie, wenn sie uns von allen anderen isolieren, ansonsten könnten wir uns gegen die 16 Soldaten stellen, die uns bewachen. Als sie ankamen, gingen sie durch alle Häuser und fragten nach unseren Namen. Sie hatten sogar eine Liste dabei, auf der sie uns abhakten. Dann sagte man uns, dass wir gefangen genommen werden. Allerdings führten sie uns nicht ab. Meine Mutter erklärte mir, dass die Arbeitslager überfüllt waren, und dass das allein unser Glück sei. Oft habe ich mich gefragt, ob es uns dort besser gehen würde, aber eines Tages habe ich zwei Frauen darüber reden gehört und verwarf sofort meine Vorstellung von den Lagern. Viele aus unserem Dorf wurden als Sympathisanten der Juden bezeichnet und so auch wir. Dabei kenne ich gar keinen Juden.
Nach der ersten kalten Nacht haben sie dann jedes Stück Holz eingesammelt und zusammengetragen. Durch das Fenster kann ich das Feuer sehen, welches gerade auf dem Dorfplatz brennt. Wahrscheinlich verbrennt gerade unser Holz. Einige der Soldaten laufen um es herum und wärmen sich die Hände. Wie gern würde auch ich dort stehen und meine Hände wärmen. In diesem Jahr habe ich mir nicht viel zu Weihnachten gewünscht. Lediglich dass ich meine Mutter nicht verlieren möchte und wir an den Weihnachtstagen in Ruhe gelassen werden. Das ist das Mindeste, was ich mir wünschen konnte. Alles andere, wie das Ende des Krieges, wäre zu hoch gegriffen. Viele aus unserem Dorf vermuten, dass es bald ein Ende hat, aber ich zweifele daran, dass es jemals besser werden könnte.
Als ich wieder aus dem Fenster sehe, sind die Soldaten, die eben noch am Feuer standen, verschwunden. Kurz darauf schlägt einer von ihnen unsere Tür auf und schreit uns an, „Sofort nach draußen kommen und antreten!“
Meine Mutter schiebt mich sofort von ihrem Schoß und nimmt mich an die Hand. Mit gesenktem Blick geht sie an dem Soldaten vorbei. Ich dagegen sehe zu ihm auf und blicke in sein strenges Gesicht. Er hat feine Züge und scheint nicht viel älter zu sein als ich. Kurz bleibe ich stehen und denke über den Grund nach. Es ist bereits spät abends. Um diese Zeit ließen sie uns sonst in Ruhe. War etwas passiert, dass wir antreten mussten? Plötzlich zieht meine Mutter an meinem Arm und zwingt mich weiter zu laufen. Auch aus den anderen Häusern kommen die Frauen und Kinder, sowie die Greise gestützt von den Verwandten, hinaus gelaufen und alle sammeln sich auf dem Platz. Wir stehen nah an dem Feuer und ich sauge jeden Hitzestrahl in mir auf, damit meine Knochen beginnen können zu tauen.
Bis sich alle in Reih und Glied geordnet haben, vergehen mehrere Minuten. Dann kommt aus einem der Häuser, das einem einsamen Mann gehört hat, ihr Unteroffizier und läuft ruhig vor uns auf und ab. Alle haben den Kopf gesenkt, so auch ich. Gespannt warte ich auf eine Erklärung, weshalb sie uns zu so ungewohnter Zeit auf den Platz bestellen. Auf einmal bleibt er stehen und beginnt zu uns zu reden.
„Wie ihr wisst, ist heute der erste Weihnachtstag. In diesem Krieg gibt es keinen Waffenstillstand zu Weihnachten! Daher müssen wir und auch ihr auf der Hut vor den Alliierten sein! Allerdings will ich euch anlässlich der Feiertage das Feuer nicht verwehren!“
Einige von uns sehen überrascht auf. Ich schaue abwechselnd in die Gesichter seiner Männer. Manche nehmen es so hin, andere verziehen ihr Gesicht vor Unverständnis, aber bleiben dennoch ruhig.
„Stellt euch abwechselnd um das Feuer und nehmt eine Tasse mit warmen Wasser entgegen!“
Voller Vorfreude lächele ich meine Mutter an und ziehe vergnügt an ihrem Ärmel. Wenn es solche gütigen Unteroffiziere des Öfteren gäbe, habe ich Hoffnung, dass der Krieg bald beendet werden kann. Meine Mutter allerdings zeigt mir nur ein kleines Lächeln. Seit der Krieg begonnen hat, hat sie nur wenig gelächelt. Davor, als mein Vater noch bei uns war, hat sie jeden Tag ein Lächeln im Gesicht gehabt. Ich vermute, sie vermisst ihn sehr. Ich will sie aufmuntern und ziehe sie als eine der Ersten an das Feuer heran. Schnell reiben wir uns die Hände, damit wieder Blut durch sie fließt. Das Kribbeln in den Fingern zeigt mir, dass sie nach Tagen wieder belebt werden. Nach wenigen Minuten ruft uns einer der Soldaten zu, dass die nächsten Bewohner dran sind. Wir werden weiter zu den heißem Kessel geschickt und bekommen unsere Tasse. Es ist nur heißes Wasser, aber es wärmt uns von innen. Mit geschlossenen Augen stelle ich mit vor, dass es ein süßer Tee ist, wodurch ich jeden Schluck genieße. Dann stellen wir uns wieder in die Reihe und warten, bis wir wieder ans Feuer können. Trotz meiner Versuche Mutter aufzumuntern, hat sie immer noch das gleiche Gesicht. Trüb und kühl starrt sie nach vorn. Obwohl mir langsam von innen warm wird, lässt ihr Blick mich gefrieren. Ich sehe mich um und erkenne, dass niemand sich über die Gesten der Soldaten freut, außer uns Kinder.
Dorf der Waffenruhe #10G30T
