Pfingstrosen „10G30T

Überall Lachen, Tanzen und Singen. Die Leute liegen sich in den Armen und sehen fröhlich aus. Ich war noch nie ein Mensch für große Mengen und Feste. Einzig und allein wegen meiner Familie bin ich mit zum Festplatz gegangen. Sie stoßen angeheitert an und trinken ihre Gläser leer. Ich sitze nur daneben und warte, dass ich wieder verschwinden kann. Dieser Trubel ist mir zu viel, angestarrt werde ich sowieso die ganze Zeit. Trendige Klassenkameraden werfen verachtende Blicke auf mich. Mit ihren grellen Farben machen sie mir deutlich, dass ich anders bin. Schwarz ist mein Grün, Grau mein Gelb. Ich liebe diese schlichte Kleidung, obwohl sie mir nur Ärger bringt.

Nur einen Moment sehe ich auf die Tanzfläche. Das ganze Jahr schaffen sie es nicht, sich aus ihren Häusern zu begeben, treiben oder sich irgendwie anders für die Gemeinde einzusetzen. Jetzt liegen sie sich lachend in den Armen und können die ganze Nacht durchtanzen. Während ich mich in Gedanken darüber beschwere, wie einfältig doch alle sind, kippt mir jemand sein Bier über die Hose.

„Das tut mir schrecklich leid, Lena!“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht geht einer dieser Hipster wieder zu seiner Clique und wird gefeiert, als hätte er die schwerste Mutprobe bestanden.

Schnell versuche ich den Schaden mit einer Serviette zu beheben, doch es nützt nichts. Der Stoff klebt an meiner Haut und lässt den Ekel in mir weiter steigen. Doch schon im nächsten Moment sehe ich die Gelegenheit für mich. Schnell tippe ich meiner Mutter auf die Schulter. Mit schiefem Grinsen und einem Silberblick lallt sie mich an „Was gibt es Schätzchen? Möchtest du nicht auch mal tanzen?“

Kurz verdrehe ich die Augen. Ich hasse es, wenn sie in diesem Zustand ist.

„Nein, ich muss nach Hause.“

Ehe ich mich erklären kann, unterbricht sie mich und zieht mich an sich heran.

„Bleib doch noch hier. Es wird gerade so lustig!“

Sie drückt mir noch einen feuchten Kuss auf die Wange, ehe ich mich wieder lösen kann.

„Mich hat jemand mit Bier bekippt. Ich muss mich umziehen.“

Enttäuscht schüttelt sie den Kopf, stimmt dann aber zu und lässt mich gehen. Erleichtert verlasse ich das Festzelt und kann unter dem klaren Sternenhimmel endlich wieder frei atmen.

Für einen Augenblick genieße ich die frische Luft. Gerade als ich den Weg nach Hause einschlagen will, hält mich jemand auf.

„Lena, warte!“

Ich kenne die Stimme nur zu gut. Er ist einer dieser Typen, die in der Schule von jedem begehrt werden. Mit seiner Lederjacke halten ihn alle für den Coolsten. Doch ich weiß, dass er das alles nicht ist.  Seit ich denken kann, wohnt er nur zwei Häuser von mir entfernt. Skeptisch betrachte ich ihn, während er weiter auf mich zu kommt.

„Was willst du, Chris?“

Verlegen streicht er sich durch die Haare, ich dagegen verschränke meine Arme vor der Brust.

„Ähm… Soll ich dich nach Hause bringen?“

Überrascht ziehe ich meine Augenbrauen hoch und drehe mich um.

„Nein danke. Ich bin schon groß.“

Ich bemerke wie er mir folgt und sehe leicht über die Schulter zu ihm.

„Das war ernst gemeint.“

Er holt mich schnell ein und läuft neben mir her.

„Ich meinte es auch ernst. Es ist dunkel und in letzter Zeit weiß man nie, wer sich hier herumtreibt.“

Kurz seufze ich und lasse ihn mitgehen. Trotzdem bin ich weiterhin skeptisch, ob es nur eine dieser Mutproben ist. Nicht nur einmal haben sie in der Clique gewettet, wie schnell sie ein Mädchen ins Bett bekommen können.

Nachdem wir auch nach 5 Minuten schweigend nebeneinander hergelaufen sind, bricht er die Stille. „Hör mal… das, was Tom da abgezogen hat, war nicht in Ordnung.“

Ungläubig schiele ich zu ihm.

„Was du nichts sagst.“

„Es war einfach nur idiotisch.“

„Und trotzdem gibst du dich mit ihnen ab.“

Er antwortet mit einem Schulterzucken und steckt die Hände in die Jackentaschen.

„Du weißt doch, wie das ist…“

Kurz bleibe ich stehen, hebe mein Kinn und sehe ihn herausfordernd an. Er bemerkt es und fährt mit seiner Hand nervös in den Nacken.

„Stimmt ja… woher solltest du es kennen.“

„Du machst es damit nicht gerade besser.“

„Entschuldige…“

Ich seufze und gehe an ihm vorbei.

„Du kannst ruhig gehen, ich bin gleich zu Hause.“

Ich höre, wie er einen Moment zögert, ehe er mir weiter folgt. Seufzend schüttele ich den Kopf, bleibe stehen  und drehe mich zu ihm um.

„Geh wieder zurück!“

Als ich ihn vor mir sehe, verschlägt es mir für wenige Sekunden die Sprache. Er hält mir mit verlegenem Blick eine Blume entgehen. Kurz sehe ich neben ihn und erkenne einen Busch Pfingstrosen. Er scheint sie gerade erst abgepflückt zu haben.

„Es tut mir wirklich leid, was Tom getan hat.“

Innerlich resigniere ich und nehme ihm die Rose ab.

„Du hattest ja nichts damit zu tun… oder?“

Er antwortet sofort mit einem Kopfschütteln.

„Du solltest mich besser kennen.“

Langsam erscheint ein leichtes Lächeln in meinem Gesicht.

„Ja, das tue ich, wodurch ich mich immer noch Frage, warum du dich mit diesem Leuten abgibst.“

Er stellt sich wieder zu mir und wir laufen weiter, bis wir vor meiner Haustür zum stehen kommen. Während ich die Tür aufschließe, bleibt Chris stehen und wartet. Fragend sehe ich in seine Richtung. „Ich bin jetzt zu Hause. Du kannst gehen.“

„Möchtest du nicht wieder mit zurück kommen?“

„Wenn du zurück bist, kannst du Tom meinen Dank ausrichten. Wenigstens konnte ich so schneller von diesen Betrunkenen verschwinden.“

Er nickt nur kurz und dreht sich dann um, um zu gehen.

„Danke, dass du mich mach Hause gebracht hast.“

Er hebt nur eine Hand zur Bestätigung und verschwindet dann um die nächste Ecke.

Nur einen Moment frage ich mich, ob er es ernst meint. Einen Augenblick betrachte ich die weiße Pfingstrose und frage mich, ob er doch nur seine Freunde beeindrucken wollte.